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VCBG zur Oberstufe: Kein MINT für Mädchen...

VCBG zur Oberstufe: Kein MINT für Mädchen...

20.06.2018

Die Inkraftsetzung der Stundentafel des neuen neunjährigen Gymnasiums in Bayern, bei der in allen Ausbildungsrichtungen Chemie (Ausnahme: naturwissenschaftlich-technologisches Gymnasium (NTG)) und Biologie in der 11. Jahrgangsstufe ausgesetzt werden, sorgt bei Fachleuten in Gymnasien, Universitäten und Industrie nur für fassungsloses Kopfschütteln. Trotz zahlreicher und ausführlich begründeter Eingaben von verschiedensten Seiten hat es das Kultusministerium vorgezogen, die berechtigten Sorgen zu ignorieren und die Naturwissenschaften weiter massiv zu schwächen. Und das, obwohl schon durch die Umstellung vom alten G9 zum G8 in Biologie, Physik und Chemie ein Rückgang der schriftlichen Abiturprüfungen um 70-90% (!) zu beklagen ist.


Zukünftig werden Schülerinnen und Schüler, die sich für eine sprachliche, humanistische, musische oder wirtschaftswissenschaftliche Ausbildungsrichtung in den ersten Jahren ihrer Gymnasialausbildung entschieden haben, de facto keine Möglichkeit mehr haben, Chemie in der Oberstufe zu belegen. Wie die Universitäten und Betriebe in aussichtsreichen Studien- bzw. Ausbildungsrichtungen (z. B. Medizin oder Pharmazie) mit diesen „Chemical Naives“ verfahren sollen, bleibt derzeit völlig offen. Vermutlich wird der mit über 30 % ohnehin schon exorbitant hohe Anteil an Studienabbrechern in naturwissenschaftlichen Fächern noch weiter steigen, was für die betroffenen jungen Studierenden nicht nur eine schmerzhafte persönliche Niederlage darstellt, sondern auch volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursacht. Es gehört schon eine utopisch hohe Portion Optimismus dazu, zu glauben, dass nahezu die Hälfte der bayerischen Abiturienten nach drei Jahren Oberstufenunterricht ohne eine einzige Chemiestunde und insgesamt überhaupt nur zwei Schuljahren Chemieunterricht in Studiengängen, die entsprechende Grundkenntnisse voraussetzen, erfolgreich sein könnten.


Das Thema ist auch deshalb von besonderer Brisanz, weil hier systematisch Mädchen benachteiligt werden. Warum? Frauen sind mittlerweile in Life Sciences-Studiengängen wie Pharmazie, Veterinärmedizin, Biologie, Lebensmittelchemie, Chemie, Medizin usw. nicht nur besser als ihre männlichen Kollegen, sondern haben auch zahlenmäßig (endlich!) aufgeschlossen. Andererseits weisen die Belegungszahlen der Ausbildungsrichtungen im bayerischen Gymnasium immer noch die tradierten Rollenmuster auf: Jungen ins naturwissenschaftlich-technologische Gymnasium, Mädchen in die sprachlichen, musischen oder geisteswissenschaftlichen Zweige. Dass die Entscheidung für eine z. B. sprachliche oder musische Ausbildungsrichtung im Gymnasium zukünftig auch gleichzeitig eine Entscheidung gegen ein späteres Medizinstudium darstellt, muss sich wohl erst noch herumsprechen. Einigen gutbetuchten Töchtern aus besserem Haus wird es dann vielleicht durch intensive außerschulische Nachhilfe noch möglich sein, die gröbsten Lücken bis zum Beginn des Studiums zu schließen, mit der viel beschworenen sozialen Gerechtigkeit hat dies aber freilich wenig zu tun…


Welche Konsequenzen hat die neue Stundentafel für die gymnasiale Oberstufe? Eine gemeinsame Belegung von Chemiekursen durch Schüler aus NTG- und nicht-NTG-Zweigen nach heutigem Muster ist nicht realistisch. Zu groß sind hier die Unterschiede bei den Vorkenntnissen: 120 % mehr Chemieunterricht im NTG und zusätzlich noch ein Jahr Zwangspause für die nicht-NTG-Schüler werden die heute schon existierende Ungleichheit bis zum Beginn der 12. Jahrgangsstufe noch weiter verstärken. Neben der eigentlich dringend gebotenen Revision der Stundentafel für die 11. Jahrgangsstufe bietet einzig eine Rückkehr zu den bei Schülern und Lehrern gleichermaßen beliebten und erfolgreichen Leistungs- und Grundkursen einen Ausweg aus dem Dilemma. So wäre es vorstellbar, fünfstündige Leistungskurse für chemisch interessierte (und talentierte) Schüler einzuführen, die aufgrund der Vorkenntnisse ausschließlich Jugendlichen der NTG-Zweige offenstehen könnten. Auf vermindertem Niveau könnten dann in Grundkursen Schüler aller Ausbildungsrichtungen gemeinsam wenigstens die stofflichen Grundlagen einer Welt entdecken und verstehen, aus denen ihre Umwelt und sie selbst bestehen…


Dass mit Chemie und Biologie zwei der drei am Gymnasium unterrichteten Naturwissenschaften derart geschwächt werden, bleibt unverständlich in einer Welt, die dringender denn je auf naturwissenschaftliche Problemlösungen angewiesen sein wird (nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht!). Im 21. Jahrhundert zu glauben, ein gebildeter Mensch bedürfe keiner fundierten Grundkenntnisse in den Naturwissenschaften ist vor allem eins:
Ein-bildung…




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